Mai 2018: „Ein Tintenfass für Schlürf“ sowie 53 weitere Märchen. - In: Sternenzelt und Märchenschloss. Bd.1 / Bd.2. Märchen-Sammelband. Karina-Verlag Wien.- ISBN 978-3-96111-369-5 (Bd.1) und ISBN 978-3-96111-400-9 (Bd.2)
Preis pro Sammelband: 19,95 €
Lesebeispiel:
Ein Tintenfass für Schlürf
Im Klassenzimmer der 4a geschahen seit einer Woche seltsame Dinge. In jeder Nacht suchte jemand nach blauen Sachen - auf den Tischen, im Schrank oder im Kreidekasten. Und dieser Jemand wollte nicht bloß damit spielen, oh nein! Die Buntstifte und die Kreide knabberte er an. Da biss er richtig Ecken heraus! Die blauen Malfarben, die Stempelfarbe und die Füllerpatronen schlürfte er aus, bis auf das kleinste Tröpfchen. Und zwar ohne zu kleckern! Auf Frau Fröhlichs Lehrertisch lagen immer ein paar Lachgummis, als Belohnung für fleißige Kinder. Diese Leckerlies mochte unser Eindringling – ihr ahnt es schon – ganz besonders gern. Am liebsten hatte er die Gummibärchen und die Gummischlümpfe. Denen saugte er wie ein Vampir die blaue Farbe aus. Die leergelutschten Figuren ließ er achtlos auf dem Klassenbuch der 4a liegen. Aber mal ehrlich, Kinder - könnt ihr euch Schlümpfe vorstellen, die gar nicht mehr wie leckere Blaubeeren aussehen? Nein? Ich auch nicht!
„Vielleicht ist es eine Maus?“, überlegte Frau Fröhlich. „Wir haben Winter, draußen ist es kalt, und da hat sie sich vielleicht bei uns einen warmen Unterschlupf gesucht.“
„Aber warum mag sie nur blaue Sachen?“, grübelte Josefine.
„Weil sie Geschmacksverirrung hat!“, rief David.
Da mussten alle Kinder lachen.
Am nächsten Tag brachte Frau Fröhlich fünf Mausefallen mit. Es waren so genannte Lebendfallen. Sie sahen aus wie Minikäfige. In jedem gab es leckeren Käse, denn die Maus sollte ja überlistet werden und sich fangen lassen. „Wir tun ihr nichts. Wir werden sie im Schulgarten freilassen“, versprach Frau Fröhlich. Sie verteilte die Fallen im Klassenraum auf verschiedene Plätze – auf dem Bastelregal, im Obstkörbchen, unter der Tafel und vor dem Bücherschrank. Die letzte der 5 Fallen stellte David genau vor seiner Federtasche auf. Frau Fröhlichs Käsestück tauschte er gegen einen blauen Filzstift aus. „Für den wird die Maus sich interessieren. Ich wette darum!“
Am späten Nachmittag verließen viele Kinder wie gewohnt das Schulhaus. Aber noch wurde es nicht zugeschlossen. Im Atrium übte die Tanzgruppe den Western Dance, im Lesezimmer traf sich der Lesezirkel, und im Musikzimmer spielte jemand auf einer Flöte. Bloß in den Klassenzimmern war nichts mehr los. In denen war es mausestill.
Da öffnete ein Mädchen behutsam die Klassentür der 4a.
„Sei bitte leise! Wer bist du?“, flüsterte eine Jungenstimme.
„Ich bin’s, Josi! David, bist du das?“
Ein blonder Haarschopf tauchte zur Bestätigung kurz hinter dem Lehrertisch auf, um dann schnell wieder darunter zu verschwinden.
„Ja. Psst!“
Josi schloss leise die Tür. Sie ließ sich behutsam auf die Knie nieder und krabbelte hinüber zu David. Die Kinder versteckten sich gemeinsam unter dem großen, breiten Lehrertisch. Vor Aufregung wagten sie kaum zu atmen. Sie hatten alle beide davor Angst, dass die Maus ihre laut pochenden Herzen hören könnte. Dann würde sie bestimmt nicht aus ihrem Versteck kommen! Eine ganze Stunde lang geschah nichts. Draußen ging die Wintersonne schlafen, und Josis linkes Bein auch. Die ersten Laternen spendeten auf dem Schulhof warmes, gelbes Licht. Aber – wie seltsam - im Klassenzimmer wurde es nicht völlig dunkel. Ein schwaches Lichtlein huschte aus dem Bastelschrank heraus. Es bewegte sich im Zickzackkurs durch den Klassenraum und schwebte zu den Tischen, auf denen Federtaschen lagen.
„Und es kann fliegen und es leuchtet. Das ist nie im Leben eine Maus.“, wisperte Josi.
Klack! Die Buntstiftfalle schnappte deutlich hörbar zu.
„Aua“, jammerte ein feines Stimmchen. „So eine Gemeinheit! Hilfe!“
Josi und David sahen sich erstaunt an. In ihren Augen stand RATLOSIGKEIT – aber fettgedruckt, mit riesengroßen Buchstaben. Was hatte die Falle da bloß gefangen?
„Du, David“, flüsterte Josi. Ihre Stimme zitterte ein klein wenig. „Können – äh - Mäuse - echt sprechen?“
„Nö. Glaub ich nicht“, sagte David unsicher. „Das ist keine Maus. Oder doch – und sie ist sprachbegabt. Eine sprachbegabte Fledermaus … denn fliegen kann sie ja auch. So wie Oma Hildes Papagei. Du, Josi, ich hab null Ahnung … Wollen wir nachsehen?“
Josi nickte tapfer. Die Kinder krabbelten eilig unterm Tisch hervor. Josi drückte auf den weißen Lichtschalter neben der Tür. Im Klassenzimmer wurde es schön hell. Dann folgte sie David zu seinem Tisch. Und tatsächlich! Die Falle hatte keine Maus, sondern ein mäusegroßes Gespenst gefangen. Seine Augen leuchteten gelb, wie zwei kleine Taschenlampen. „Ach ja. Licht aus. Ich muss Energie sparen“, murmelte es. Es hob zwei Händchen und rieb sich damit die Augen, als ob es müde wäre. Als es damit fertig war, hatte es bloß noch zwei schwarze Äuglein, die nicht anders aussahen als die von Oma Hildes Papagei.
Zuerst verstanden David und Josi nicht, wieso das Gespenst überhaupt in der Falle geblieben war. Es hätte normalerweise durch jeden Spalt im Käfiggitter entwischen können. Vermutlich konnte es sowieso durch Türen und Wände gehen! Doch die Kinder erkannten bald, warum das Gespenst um Hilfe gerufen hatte. Die Falltür hatte beim Zuschnappen einen Zipfel des hellblauen Geisterumhangs eingeklemmt. Und damit saß das Gespenst im wahrsten Sinn des Wortes in der Klemme.
„Erwischt! Du knabberst also unsere blauen Sachen an!“, rief David mit strenger Stimme. Josi bewunderte ihn insgeheim für so viel Mut.
Das Gespenst nickte. „Ja, denn ich lebe von Tinte. Ich bin ein Gespensterjunge und heiße Schlürf. Früher stand auf jedem Schreibtisch ein Tintenfass. Nachts konnte ich mich deshalb satt trinken. Und heute? Tintenfässer gibt es schon lange nicht mehr. Da muss ich mir natürlich etwas anderes suchen. Was bleibt mir denn sonst übrig?“
Josi holte fünf Tintenpatronen aus Davids Federtasche, schnitt sie mit einer Schere auf und schüttete die Tinte auf die Tischplatte. Dann öffnete sie die Falltür und ließ das Gespenst frei.
„Ich danke dir“, sagte Schlürf höflich. Als er lächelte, sahen David und Josi weiße, spitze Zähne in dem Gespenstermund.
Schlürf schwebte elegant aus der Falle heraus. Er landete neben dem Tintenklecks, holte ein blaues Löffelchen aus seinem Umhang und schlürfte die Tinte so sauber weg, dass kein Tropfen zurückblieb. Je länger er trank, desto dunkelblauer wurde er – sein Umhang, sein Gesicht und seine Hände. Staunend sahen David und Josi zu. Jedes Fitzelchen an Schlürf wurde farbenprächtiger.
Zuletzt sah er so wunderbar blau aus wie ein Sommerhimmel im August. Seine schwarzen Augen blitzten vor Vergnügen, als er den letzten Schluck genoss. „Das tut gut. Endlich satt“, seufzte er. „Bringt ihr mir morgen Abend wieder was zu essen?“
„Leider nicht“, bedauerte David. „Aber wie wäre es, wenn du uns begleitest? Du kannst in meinem Kinderzimmer wohnen, nachts auf dem Dachboden spuken und meine Tintenpatronen ausschlürfen. Dann muss ich vielleicht weniger Hausaufgaben machen!“
„Und ich komme euch jeden Tag besuchen“, versprach Josi. „Ich hab regelmäßig ein paar blaue Filzstifte übrig, die ich verschenken kann.“
„Lecker“, freute sich Schlürf. „Blaue Schlumpfgummis auch?“
„Oh ... na gut … aber nicht alle – wir teilen lieber. Ein paar musst du uns schon übriglassen!“, riefen David und Josi gleichzeitig.
Schlürf kicherte. Dann verließen alle drei zufrieden den Klassenraum.
Marianne Thiele
5/2016
Last Updated (Thursday, 14 February 2019 09:49)
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