Schutzgebiet

Im Vorgarten des alten Bauernhauses tummelten sich die Schmetterlinge und Bienen auf den bunten Blüten im Licht des Frühsommerabends. Hin und wieder landete ein Falter an der Hauswand aus rotem Backstein, um noch einmal Wärme zu tanken, bevor die Nachtkühle die Flügel ungelenkig werden ließ. Eine gelb blühende Rose kletterte an einer Rankhilfe empor, gleich neben der Eingangstür. Von dort führte ein Steinplattenweg zur Gartenpforte, neben der auch ein rostiger Briefkasten hing. Ein brauner Holzzaun trennte das stille Gehöft von der Straße, die schnurgerade durch die Siedlung führte und an deren grauem Band sich die Eigenheime wie Perlen an einer Schnur entlang reihten. Farbenfrohe Blumenrabatten säumten den sauber gefegten Gehweg. Alle paar Meter luden grün gestrichene Bänke zum Innehalten und Hinsetzen ein. Eine davon stand auch vor dem alten Bauernhaus, gleich links neben Pforte und Briefkasten.

Der einzige Bewohner jenes Hauses – ein hagerer Rentner, der eine abgetragene Jeans und ein kariertes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln trug – kam in den Vorgarten, um die Blumen zu gießen. Nachdem er das erledigt hatte, stellte er die leere Gießkanne am Zaun ab und schaute die Straße entlang, ohne an etwas Besonderes zu denken. Sein Blick verweilte schließlich bei dem fremden Kater, der so selbstverständlich hinterm Zaun auf der grünen Bank saß, als gehörte sie ihm. In aller Ruhe putzte das Tier mit seiner gelenkigen Zunge seine braunen und schwarzen Fellstreifen sauber, einen nach dem anderen. Dabei drückte es seinen Körper behaglich gegen die hölzerne Rückenlehne der Bank, welche tagsüber auf angenehme Weise die Wärme der Sonnenstrahlen gespeichert hatte. Hier und da musste etwas Heu aus dem Pelz entfernt werden. Am Schwanzende hing eine trockene braune Kiefernnadel, die sich bisher hartnäckig allen Reinigungsbemühungen widersetzt hatte. Der Kater strengte sich deshalb noch mehr an und kniff die gelben Augen schlitzförmig zusammen. Das sah irgendwie gemütlich aus, keinesfalls angriffslustig.

Ein Streuner, dachte der Mann. Er ist zu mager für eine Wohlstandskatze. Und jetzt, zur Abendbrotzeit, säße so eine auch nicht mehr bettelnd vor einer fremden Haustür.

Der Latz war weiß, die Kinnpartie ebenfalls. Auf der Stirn trug der Kater ein M, einen deutlich lesbaren schwarzen Buchstaben auf braunem Grund.

Das heißt Mäusefänger, hätte Martha behauptet.

Der Mann lächelte bei dieser Erinnerung. Es war ein scheues Lächeln, denn er war es nicht mehr gewohnt, es jemandem zu schenken.

Der Kater registrierte es und nahm es gelassen hin. Es würde sein Geheimnis bleiben, ob er bisher mehr Flüche, Tritte und Steine kennen gelernt hatte als so ein Lächeln. Aber er mochte es. Es wärmte sein Katerherz. Und den weißhaarigen, dünnen Mann, der es ihm geschenkt hatte, mochte er auch. Der Alte lebte allein, ohne nervige Kinder. Ohne Hunde. Der Kater wusste das inzwischen. Ob da mehr zu holen war als so ein Lächeln? Es war vielleicht einen Versuch wert!

Der Mann sah dem Kater weiter zu. Sonst tat er nichts. Er hatte sich drei Jahre lang daran gewöhnt, ein Sonderling zu sein. Allein zu wohnen. Zu schweigen. Niemanden zu brauchen. Der neugierigen Hilda die Jalousie vor der Nase runterrasseln zu lassen, als sie ausspionieren wollte, ob er in der Küche immer noch drei Gedecke hinstellte, anstatt nur eins. Er ignorierte die Aufforderung der Nachbarn zum Frühjahrsputz. Stattdessen harkte er wortlos vor dem eigenen Gartenzaun, genau bis zu der Bank, auf der er mit Martha so gern gesessen hatte. Die Einladung fürs Osterfeuerspektakel auf dem Försterhof warf er in den Papierkorb, obwohl der Grünrock sein direkter Nachbar war. Er blieb lieber für sich. Dass die Halbwüchsigen zur Geisterstunde ausgerechnet auf Marthas Bank ihr Besäufnis beendeten, störte ihn nicht wirklich. Am Ostermontag warf er die leeren, stinkenden Flaschen kommentarlos weg.

Vieles war ihm gleichgültig, seit Martha vom Krebs besiegt worden war. Der Sohn war ihr nach nur 10 Monaten gefolgt. Motorradunfall. Seitdem stellte der Mann sich manchmal vor, wie die beiden da oben auf ihrer Wolke saßen und ihm zuschauten. Womöglich amüsierten sie sich darüber, dass er nun alleine war und ihre Gräber pflegen musste?

Beim Försterhaus endete die Siedlung. Dahinter gab es nur noch den Friedhof und dann den Wald. Der war neuerdings auch ein Sonderling geworden, fand der Mann. Blumen pflücken, Holz holen, Blaubeeren und Pilze sammeln, so was war seit einigen Monaten verboten. Naturschutzgebiet. Er störte sich nicht am Verbot, und bisher hatte ihn noch niemand angezeigt. Es wäre ihm auch egal gewesen.

Der fremde Kater beendete seine Putzaktion. Er sprang von der Bank, hisste den Schwanz wie eine siegreiche Fahne und steuerte zielstrebig auf den Mann zu. Dabei warf er einen aufmerksamen Blick nach links - zum Förster. Der hatte eigentlich in den Wald gehen wollen, kam nun aber hinüber zum Sonderling. Die Waffe hing über der Schulter. Der braune Jagdterrier an der Leine knurrte leise.

„Aus, Asta!“, befahl der Förster.

Die Hündin zuckte zusammen und verstummte. Der Kater huschte durch die Gartenpforte und versteckte sich hinter dem alten Mann, der für ihn gelächelt hatte. Er machte sich ganz klein, wurde hinter den Menschenbeinen sozusagen unsichtbar. Die Katzenohren richteten sich tütenförmig nach vorn, empfangsbereit für feinste Schwingungen.

„Guten Abend, Albert“, sagte der Förster.

Der Mann schwieg.

„Ist das dein Kater?“

Der Mann sah nachdenklich auf das Tier hinab. Er zuckte die Achseln.

„Dann lass ihn die nächste Zeit im Haus! Es ist Brutzeit im Schutzgebiet – streunende Katzen sind eine Gefahr für die Jungvögel. Ich muss ihn erschießen, wenn ich ihn im Wald wildern sehe!“

In den Augen des Alten flammte Ärger auf. Er wandte sich wortlos der Haustür zu. Der Kater folgte ihm auf dem Fuße, sichtlich bestrebt, zum Förster einen Sicherheitsabstand zu gewinnen. Er hatte zwar nicht verstanden, was der Grünrock wollte. Aber er wusste, dass es nichts Gutes war. Die Augen von dem Hundemann hatten böse ausgesehen, die Stimme klang grob.

Der Förster schüttelte grimmig den Kopf. Albert war ja so was von eigensinnig! Ein weltfremder Egoist! Von dem erhielt man kein freundliches Wort mehr. Zu schade, dass Martha so früh hatte gehen müssen. Ohne sie war der Alte nicht mal mehr mit Senf zu genießen!

Der Förster rückte die Waffe über der Schulter bequemer zurecht. Dann zog er die Hündin hinter sich her, zum Wald. Asta beeilte sich, ihrem Herrn zu folgen. Dem Kater schenkte sie keinen Blick mehr.

Der Mann war die kleine Treppe zum Vorbau hinaufgestiegen und bei seiner Haustür angelangt. Es war keine besondere Tür, sondern eine aus grünem Kunststoff, ohne Schnickschnack und Schnörkel. Sie war nicht anders als der Hausherr, dem sie gehörte und der sie jetzt öffnete.

Dann wandte er sich seinem pelzigen Besucher zu und wartete. Erstaunt registrierte der Mann, dass es ihm nicht egal war, ob der Kater dieses Freundschaftsangebot annahm oder ausschlug. Sein Herz klopfte plötzlich schneller, das ließ sich nicht leugnen. Er freute sich auf das, was gleich geschehen würde, und er fürchtete sich auch davor. Er hatte zu lange allein gelebt.

Wie sehr sich wenige Sekunden Wartezeit ausdehnen können!

„Na, du Tiger? Nun komm schon rein“, sagte der Mann.

Der Kater verstand die Einladung ganz genau. Er spürte die Wärme in den Augen des Menschen, der für ihn lächeln konnte, und die Wärme im Haus. Es roch auch nach Essen – nach Käse und Wurst. Oh, wie lecker! Das Wasser lief ihm im Maul zusammen. Er wusste nun, dass er angekommen war.

Langsam, ohne Hast, kam der Kater zur Tür. Auf der Türschwelle blieb er stehen. Er ging nicht gleich ins Haus. Er drückte sich eng an die Beine des Mannes, suchte seinen Blick, zwinkerte ihm zu und schenkte ihm ein stummes Miau.

Und der Mann lächelte zurück.

Marianne Thiele

02/2017

 

Last Updated (Saturday, 21 January 2023 07:06)